Von 25 auf 75 in fünf Minuten

Über das Alter, die Einschränkungen und eine bessere Gesellschaft

Ein Muskelkraftverlust von etwa 15-20%, Arthrose in den Knien und Ellbogen, eine Gelbfärbung der Linse, ein reduziertes Sichtfeld und nachlassendes Hörvermögen – Symptome, die uns im Alter erwarten können. Allerdings entwickeln zumeist junge Menschen Produkte und gestalten unsere Welt – auch die Welt, in der ältere Menschen zurechtkommen müssen. Wie aber sollen junge Menschen erahnen, wie sich diese Einschränkungen auswirken? Nur wenn sie dies wissen, können sie Produkte entwickeln, die von möglichst vielen Menschen genutzt werden können.

Ich höre und vergesse. Ich sehe und behalte. Ich handle und verstehe. Analog zu dieser konfuzianischen Weisheit hat Prof. Stefanie Eberding, Professorin an der Schule für Architektur Saar (SAS) der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, ihr Seminar zum Thema Universal Design aufgebaut. Statt tun zu lassen, ließ sie ihre Studierenden fühlen, was die Einschränkungen der alten Menschen bedeuten können: der Age Explorer des Saarbrücker Meyer-Hentschel Institutes machte aus 25-Jährigen innerhalb von fünf Minuten 75-Jährige oder noch ältere.

Der 1995 entwickelte Age Explorer simuliert die körperlichen Einschränkungen älterer Menschen: Knie- und Arm-Arthrose werden durch Manschetten um die Gelenke fühlbar gemacht, eine Gewichtsweste simuliert den Muskelkraftverlust, Hose und Anzug aus festem Stoff und mit Gewichten versehen schränken die Beweglichkeit ein, mit Kopfhörern wird das Hörvermögen reduziert, Handschuhe schränken die Fingerfertigkeit ein und der Helm mit gelben Visier simuliert nicht nur die Verfärbung der Linsen, sondern auch die Alterssichtigkeit und das eingeschränkte Blickfeld der Studierenden. Und fertig ist der Senior! Eberding dazu: „Die Architektur von heute muss sich auf den demografischen Wandel einrichten. Das Hineinversetzen in eine andere Person mit ihrer eigenen, durch Einschränkungen bestimmten Lebenswirklichkeit, erlaubt es den angehenden Architekten, diese Aspekte, die am eigenen Leib erfahren werden, bei der baulichen Umsetzung im Berufsleben zu berücksichtigen.“

Kaum waren die Probanden „gealtert“, wurde den anderen in der Gruppe sofort klar, wie eingeschränkt die mutigen Anzuganzieher waren: sie reagierten bspw. nicht, wenn jemand, der hinter ihnen stand, sie ansprach. Sie konnten das einfach nicht mehr hören. Wenn der Proband jemanden ansehen wollte oder sich orientierte, musste er den ganzen Kopf oder Körper drehen, da das eingeschränkte Blickfeld nichts anderes erlaubte. Das Ziehen eines Parkscheines am Automaten war zwar möglich, allerdings konnte nicht erkannt werden, in welchen Zeiten ein Ticket zu lösen ist oder was die Parkzeit kostet. Größere Displays wären hier sicher hilfreich.

Zwölf Studierende des Master-Studiengangs Architektur waren vor Ort – vier davon mutig genug, den Anzug anzuziehen. Etwas Aufsehen erregte der Tross – was vielleicht an dem Age Explorer gelegen haben könnte, der für die Passanten in der Saarbrücker Bahnhofstraße wie die Requisite einer Science-Fiction-Filmproduktion wirken musste. Zurückgelegt wurde ein Parcours, der über die Alte Brücke und den St. Johanner Markt in die Karstadt-Cafeteria führte. Dort musste Rolltreppe gefahren werden, um in der Cafeteria einen Kaffee zu kaufen. Am Rathaus vorbei ging es zur nächsten Saarbahnhaltestelle, nach dem Ticketkauf wurde eine Station in der Saarbahn zurückgelegt und der Heimweg angetreten.

Hanne Scherffius vom Meyer-Hentschel Institut erklärte: „Wir möchten Brücken zwischen den Generationen bauen und wünschen uns, dass Sie sich mit diesen Erfahrungen besser in ältere Menschen versetzen können. Jetzt, wo Sie diese Einschränkungen erlebt haben, werden Sie vielleicht nicht mehr mit dem Fuß an der Kassenschlange unruhig tippen, wenn ein älterer Mensch etwas mehr Zeit benötigt.“ Das dürfte an diesem Tag gelungen sein. Unisono erklärten die Studierenden, dass sie sich Einschränkungen vorgestellt hatten, aber nicht in dem Maße. „Dinge, die sonst völlig normal sind, über die man nicht nachdenkt, wurden mit dem Age Explorer fast unmöglich,“ oder „So deutlich hatte ich mir das nicht vorgestellt.“ So wurde die alte konfuzianische Weisheit erneut belegt: nichts ist so anschaulich, wie etwas selber zu tun. Wenn die Studierenden darüber hinaus die theoretischen Grundlagen des Universal Designs beherzigen, könnte die Welt von Morgen etwas freundlicher gestaltet sein – für ganz junge Menschen, für Teenager, für Menschen mittleren Alters und für alte Menschen. Eigentlich ganz einfach, wenn man im Vorfeld darüber nachdenkt.


Hintergrund:

Der Begriff universal design
Universal design ist ein Gestaltungsansatz zur Entwicklung von Produkten, Dienstleistungen und Umgebungen. Universal design will einem möglichst großen Kreis von Menschen die Handhabung von Gegenständen und Orten ermöglichen, ohne spezielle und separierende Lösungen zu bieten, die häufig als stigmatisierend empfunden werden.

Meyer-Hentschel Institut
Das Meyer-Hentschel Institut beschäftigt sich seit 1985 mit den Wünschen und Lebensstilen älterer Menschen. Das Institut motiviert und unterstützt Unternehmen, ihre Produkte und Dienstleistungen besser an die Bedürfnisse älterer Menschen anzupassen. 1995 stellte das Institut den ersten Age Explorer® vor. Bis jetzt haben mehr als 14.000 Mitarbeiter innovativer Unternehmen aus Industrie, Handel, Dienstleistung und Altenpflege an Age Explorer-Workshops teilgenommen.

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