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Text: Prof. Dr. T. M. König, Dr. M. V. Hellenthal, P. Joachim, Prof. Dr. R. Tiemann, D. Nagel, M. Fries

Abstract – Während innovative KI-Systeme wie Affectiva zukünftig an Bedeutung gewinnen werden, erforscht ein interdisziplinäres Forschungsteam aus den Bereichen empirisches Marketing, Psychologie und Fahrzeugtechnik, inwieweit vorhandene, standardmäßig verbaute Fahrzeugtechnologie Potenzial zur Emotionsmessung aufweist. Können klassische Fahrzeugsensoren wie z. B. Beschleunigungs- und Drucksensoren dazu verwendet werden, um physiobiologische Emotionsmessungen der Bewegung oder der Muskelbeanspruchung in Echtzeit vorzunehmen? Das ist die Forschungsfrage, an der das Projekt »Emotionsmessung im Fahrersitz« unter der Leitung von Professor Dr. Tatjana König, Fachbereich für Wirtschaftswissenschaften, sowie Professor Dr. Rüdiger Tiemann, Fahrzeugtechnik, Labor für Fahrwerk und Fahrdynamik, ansetzt.

Emotionen im Straßenverkehr

Unfälle im Straßenverkehr stellen mit 1,35 Millionen Betroffenen die weltweit achthäufigste Todesursache dar (WHO 2018). Nach Angaben der Allensbacher Studie ›Generation Mitte‹ (September 2019) zum gesellschaftlichen Klima in Deutschland beklagen über 80 % der Befragten zunehmende Aggressivität insbesondere im Netz und im Straßenverkehr. Darüber hinaus bemängeln nahezu 80 % der Befragten, dass sie unter stetig zunehmendem Zeitdruck stehen. Steigende Aggressivität im Straßenverkehr (›road rage‹) sowie zunehmender Zeitdruck können laut einer Vielzahl von Studien die Fahrsicherheit entscheidend beeinträchtigen (Jeon, Walker & Yim 2014).

Konkret fand eine Studie des Virginia Tech Transportation Institutes heraus, dass aktivierende Emotionen wie Ärger, aber auch weniger aktivierende Emotionen wie Traurigkeit das Risiko, in einen Autounfall verwickelt zu sein, um das Zehnfache steigern können (Dingus et al. 2016). Während Dingus et al. (2016) reale Fahrdaten mit über 900 Unfällen auswerteten, wies eine experimentelle Studie von Jeon, Walker und Yim (2014) ein ärgerinduziert signifikant schlechteres Fahrverhalten nach als bei Probanden, welche verschiedene Teststrecken in einem emotional neutralen Zustand abfuhren. Die psychologische Forschung ist sich mittlerweile einig darüber, dass das menschliche Denken und Handeln weniger rational geprägt, als vielmehr von Emotionen – wenn auch zu einem großen Teil unbewusst – dominiert wird (Nass et al. 2005; Mayer De Groot 2016). Aufgrund der weitreichenden Folgen erlangt die Emotionsforschung im Automobilbereich eine ganz besondere Bedeutung.

Methoden zur Emotionsmessung

Grundsätzlich existiert eine Vielzahl an Emotionsmessmethoden, die überwiegend in der Psychologie sowie im Marketing zum Einsatz kommen. Die klassischen Messmethoden können in drei Klassen eingeteilt werden (in Anlehnung an Plutchik 1989, 2003):

a) Physiobiologische Messung: Diese Messmethoden werden verwendet, wenn es darum geht, den Aktivierungsgrad einer Person zu messen. Dazu zählen z. B. die Messung von Hautwiderstand, Herzfrequenz, Hirnwellen sowie die Muskelspannung bei der Konfrontation der Testperson mit einem Stressor.

b) Messen des Ausdrucksverhaltens: Messung der Körpersprache, im Besonderen die »Gesichtssprache«. Das menschliche Gesicht ist in der Lage, in kurzer reagibler Abfolge emotionale Vorgänge widerzuspiegeln. Eine der bekanntesten Erhebungsmethoden, das FAC-System (Facial Action Coding System; Ekman 2003; Ekman & Friesen 1978), dient dazu, die diskrete emotionale Verfassung eines Probanden anhand sogenannter Action Units bei Gesichtsbewegungen zu messen.

c) Subjektive Erlebnismessung: messen die Intensität durch verbale oder bildbasierte Skalen der Emotionsabfrage, beispielsweise aus der sogenannten SAM-Skala.

Emotionsmessung im Fahrersitz

Entsprechend der oben genannten Verfahren können aktuell verschiedene Messverfahren zur Emotionsmessung im Fahrersitz unterschieden werden.

Physiobiologische Messverfahren: Im Rahmen experimenteller Designs im Automobilbereich werden mittels apparativer Technik (z. B. verkabelter Helm, EEG) Spannungsschwankungen im Gehirn von Fahrer oder Mitfahrer gemessen. Die notwendige apparative Messung ist für die Messung im alltäglichen Straßenverkehr jedoch wenig geeignet. Darüber hinaus können Wärmebildkameras und Smartwatches zur psychobiologischen Emotionsmessung eingesetzt werden.

  • KI-gesteuerte Messungen mittels Gesichtserkennung werden beispielsweise zur Müdigkeitserkennung (z. B. Affectiva 2018) oder zur Diagnose von Reisekrankheit (Motion Sickness) bei zunehmendem Grad an Fahrzeugautomatisierung eingesetzt. Erste vielversprechende Untersuchungen werden durch die Forschungsgruppe Systemische Neurowissenschaften und Neurotechnologie (SNN Unit) unter der Leitung von Professor Dr. Dr. D. Strauss bereits sowohl in realen Fahrzeugversuchen als auch simulativ in einem 3D-Fahrsimulator abgedeckt (Thinnes et al. 2018). Weitgehend befindet sich die Technik allerdings noch im Erprobungsstadium und ist sehr teuer (Puscher 2018). Während innovative KI-Systeme zukünftig an Bedeutung gewinnen werden, stellt sich allerdings die Frage, ob auch vorhandene, standardmäßig verbaute Fahrzeugtechnologie Potenzial zur Emotionsmessung aufweist und damit bereits heute einen Beitrag zur Fahrsicherheit leisten kann.
  • Messung über Spracherkennung: Intelligente Sprachassistenten (z. B. bei BMW) benötigen eine konkrete Äußerung des Fahrers, dass er gestresst ist, und aktivieren daraufhin ein Beruhigungsprogramm (Anpassung von Innenraumbeleuchtung, Musik und Temperatur). Bei der passiven Spracherkennung soll die hierfür eingesetzte Software (z. B. EmoVoice der Universität Augsburg) mittels Abweichungen in der Stimmlage den aktuellen emotionalen Zustand des Fahrers erkennen und entsprechend darauf reagieren.
  • Spezifische Emotionssensoren (Lenkrad): Mercedes Benz hat eine gesonderte Sensorik zur Emotionsmessung im Lenkrad bereits 2001 patentieren lassen. Über sensorische Leiterplatten wird der Aktivierungsgrad des Fahrers gemessen. Bei größeren Diskrepanzen zum Normalprofil des Fahrers, wie sie z. B. Stresssituationen auslösen, soll diesen mit Hilfe von optischen, akustischen, olfaktorischen und haptischen Signalen ohne Ablenkung vom Straßenverkehr entgegengewirkt werden. Bislang sind diese Lenkradsensoren nicht serienmäßig verbaut.

                


Forschungsfrage

Das Forschungsprojekt Emotionen im Fahrersitz hat sich die Beantwortung folgender Forschungsfrage zum Ziel gesetzt: Können klassische Fahrzeugsensoren wie z.B. Beschleunigungs- und Drucksensoren dazu verwendet werden, den emotionalen Zustand des Fahrers in Echtzeit zu bestimmen? Obwohl Fahrzeugsensoren in den letzten Jahren aufgrund der steigenden Anforderungen an Fahrzeuge stetig anspruchsvoller und innovativer geworden sind (Green Car Magazine 2019), scheint diese Forschungsfrage, die ein erhebliches Forschungspotenzial verspricht, ein vernachlässigter Bereich in der Automobilbranche zu sein (eigene Literatur- u. Patentrecherche).

Das Forschungsprojekt Emotionen im Fahrersitz zielt darauf ab, standardmäßig verbaute Fahrzeugsensoren zu identifizieren, mit deren Hilfe eine valide Emotionsmessung des Fahrers möglich ist. Zur Validierung der sensorgestützten Emotionsmessung dienen etablierte Messmethoden wie Gesichtsbewegung und deren Dekodierung mit Hilfe des Facial Action Coding Systems sowie die subjektive Erlebnismessung. Darüber hinaus wird geprüft, ob eine zusätzliche Validierung der Sensordaten durch Blutdruckmessung z. B. über eine Smartwatch sowie der Aktivierungsgrad durch Messung z. B. über eine Wärmebildkamera erfolgen kann. Um das Forschungsziel der Prüfung und Validierung von sensorgestützter Emotionsmessung zu erreichen, wird in einem interdisziplinären Forschungsteam physiobiologische Messmethodik in experimentellen Designs mit sensortechnischem Know-how aus dem Fahrzeugingenieurwesen kombiniert.

Können in diesem Forschungsprojekt standardmäßig verbaute Sensoren identifiziert werden, die Emotionen valide messen können, so bedarf es im Alltagsgebrauch keiner zusätzlichen Messtechnik wie Smartwatches oder Fahrzeugkameras. Vielmehr kann dann bereits mit standardmäßig verbauten Fahrzeugsensoren die emotionsinduzierte Unfallgefahr identifiziert und ihr entgegengewirkt werden. Die Forschungsergebnisse sind von konkretem Interesse im Automobilsektor, da bereits vorhandene Fahrzeugsensoren gerade bei Fahrzeugen im mittleren und unteren Preissegment eine Alternative zu kostenaufwändigeren und teilweise zukunftsorientierten KI-Systemen darstellen.

Forschungsdesign

Der beschriebene Multi-Method-Ansatz zur Emotionsmessung kombiniert Methodik aus den Bereichen Psychologie und Marketing mit klassischer Fahrzeugtechnik. Das Projektteam um Professor Dr. Tatjana König und Professor Dr. Rüdiger Tiemann entwickelt und testet verschiedene experimentelle Designs. Probanden fahren hier in einem Testfahrzeug verschiedene Strecken auf einem abgeschlossenen Testgelände ab. Dabei wird jeweils zwischen neutralen und Stresssituationen unterschieden. Bei letzteren werden die Probanden durch sog. Stressoren in einen emotional angespannten Zustand versetzt. Ein Vergleich zwischen den Sensorausschlägen beider Situationen gibt Aufschluss darüber, welche Sensoren am ehesten für die Emotionsmessung geeignet sind. Die zusätzliche Dekodierung der Gesichtszüge (Facial Action Units) dient der Validierung der Emotionsmessung.

Foto: iStock/Anna Gorbacheva

Literatur

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Allensbacher Institut für Demoskopie

(2019): Generation Mitte 2019, unter: https://www.ifd-allensbach.de/,

[24.09.2019].

Dingus, T. A., Guo, F., Lee, S., Antin, J. F., Perez, M., Buchanan-King, M., Hankey, J. (2016): Driver crash risk factors and prevalence evaluation using naturalistic driving data, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 113(10), 2636–2641.

Ekman, P. (2003): Emotions Revealed. New York: Times Books.

Ekman, P., Friesen, W. V. (1978): Manual for the Facial Action Code. Palo Alto, CA: Consulting Psychologist Press.

Green Car Magazine (2019): Sensoren

– die vielen Sinne eines Autos, unter: https://greencarmagazine.de/sensoren-die-vielen-sinne-eines-autos/, [21.08.2019].

Jeon, M., Walker, B. N., Yim, J. (2014): Effects of specific emotions on subjective judgment, driving performance, and perceived workload, in: Transportation Research Part F, 24, 197–209.

Mayer De Groot, R. (2016): Ansätze zur Quantifizierung des Kommunikationser-folges und des Return of Investment, in: F. R. Esch (Ed.), Handbuch Controlling der Kommunikation, 79–107.

Nass, C., Helen, I. J., Ben, H., Brave, S., Takayama, L. (2005): Improving Automotive Safety by Pairing Driver Emo-tion and Car Voice Emotion, 1973–1976. Oregon, USA.

Plutchik, R. (1989): Measuring emotions and their derivatives, in: R. Plutchik & H. Kellerman (Eds.), Emotion, Theory, Research, and Experience, 4, 1–35.

Plutchik, R. (2003): Emotions and life: Perspectives from psychology, biology, and evolution. Washington, DC, US: American Psychological Association.

Puscher, F. (2018): Emotionsmessung. Absatzwirtschaft - Technologie & Innovation, 60, 30–34.

Thinnes, D., Laubner, D. G. M., Dauth, F., Bagci, I., Strauss, D. J., Corona-Strauss, F. I. (2018): Autonomic Nervous System Correlates of Motion Sickness during Highly Automated Driving, in: Conf Proc IEEE Eng Med Biol Soc. 2018.

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BildQuellen

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  • org (o.J.): Mimik-resonanz® und die Forschung, unter: https://www.mimikresonanz.org/was-wir-tun/forschung, [21.08.2020].
  • Farnsworth, Bryn (2020): How to Measure Emotions and Feelings (And the Difference Between Them), unter: https://imotions.com/blog/difference-feelings-emotions/,

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  • org (2014): Bodily maps oemotions, unter: https://www.pnas. org/content/111/2/646, [20.10.2020].

 

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