Text: Anne Schmitt, M.Sc.
Für ein laufendes Dissertationsprojekt wurde ein ethnografisch angelegtes Studiendesign gewählt. In dem vorliegenden Artikel wird eine Annäherung an die Ethnografie im Kontext der Pflegewissenschaft und Pflegeforschung versucht und im Kontext des Forschungsinteresses der Autorin gesetzt. Im möglichen Rahmen der Autorin kann auch nicht mehr als eine ›Annäherung‹ möglich sein. Da das Dissertationsprojekt noch nicht abgeschlossen ist, wird auf dessen Verlauf nicht weiter eingegangen. Allerdings wird in Punkt 2 ›Forschungsgegenstand — Schmerz sehr kleiner Frühgeborener‹ kurz dargelegt, welche Thematik bearbeitet wird.
Seit mehreren Jahren konstituiert sich die Pflegewissenschaft, die sich auch in Deutschland immer mehr zur eigenständigen Disziplin entwickelt. Dabei ist die Pflegewissenschaft als anwendungsorientierte Wissenschaft an Lösungen konkreter Probleme der Pflege und der Adressaten der Pflege interessiert (Schröter 2019). Die Pflege‹ ist in unserem Alltag allgegenwärtig, wir haben vielfältige Kontakte zu Institutionen, die Pflege bereitstellen — als Patient:innen, An- und Zugehörige oder als Pflegende selbst. Es handelt sich also um ein weites Feld, das »mühsam abzustecken, zu ergründen und zu beackern« ist (Dunger, Schnell & Bausewein 2017). Hier wird das Tätigkeitsfeld der Pflegewissenschaft verortet, das auch Dunger als eher anwendungsorientierte Wissenschaftspraxis versteht, die sich u. a. konkreter Problemlösungen widmet und sich weniger an der abstrakten Wahrheitsfindung ausrichten würde (Dunger, Schnell & Bause-wein 2017).
Die Pflegeforschung will den Gegenstandsbereich der Pflegewissenschaft beschreiben und erweitern. Außer quantitativen Methoden werden in der Pflegeforschung qualitative Methoden der Sozialwissenschaften eingesetzt. Der Kern qualitativer Methoden ist mit den Prinzipien (Gütekriterien) der Gegenstandsangemessenheit, Offenheit, Kommunikation, Prozesshaftigkeit und Reflexivität verbunden. Diese Prinzipien beziehen sich auf die einzelnen Verfahren jeweils angepasst (Strübing 2013: 25 in Nover 2020: 4). Gegenstandsangemessenheit bezieht sich auf die Wahl des Gegenstandes, der beforscht werden soll und die Forschungsmethode. Die Wahl des Forschungsgegenstandes und der Forschungsmethode wird davon beeinflusst, wie die Forscher:in selbst ‚versteht‘, das beeinflusst ihre »Vorstellung davon, wie man sich dem Gegenstand nähern kann«, der erforscht werden soll. Zur Gegenstandsangemessenheit muss über die Selbstreflexion eigener Annahmen des Verstehens und der eigenen individuellen Haltung das subjektive Verstehen des Forschungsgegenstandes hinzukommen. Dieses denklogische Modell ist gekennzeichnet »durch wellenförmig verlaufende Graduierungen von Zweifel und Gewissheit und regelmäßig wiederkehrenden systematischen Reflexionsschleifen« (Nover, Sirsch, Doettinger, Panke-Kochinke 2015: 311 f in Nover 2020: 36).
Qualitative Forschungsmethoden ermöglichen es vor allem, Handlungs- und Kommunikationsprozesse im menschlichen Miteinander« zu rekonstruieren. Vor allem im Prozess der Pflege (Pflegeprozess) muss das Gegenüber, also der Mensch, der Empfänger der Pflege ist, verstanden bzw. ergründet werden, es ist aber auch zu ergründen, was das »Gegenüber […] zu verstehen meint«. Pflegeforscher und Pflegende wollen in Handlungssituationen begreifen, was die Patient:in meint und was die Patient:in der Pflegefachperson »sagen will, meint und meinen könnte und dabei [ist] zu berücksichtigen, dass ich (die Pflegefachkraft (e. A.)) selbst auf eine bestimmte Art und Weise reagiere, die sich mir nicht immer erschließt« (Nover 2020: 8). Nover bezeichnet es als »Prozesse des Verstehens oder Missverstehens«, die »in aufwändigen Forschungsprozessen zu rekonstruieren« sind. Auf der Handlungsebene der Pflegepraxis ist also das Ziel der Forschung »offensichtlich […]: ich möchte mein Gegenüber verstehen lernen um ihm/ihr besser gerecht zu werden«. Verstehen in diesem Kontext ist aus der Sicht der Pflegepraxis »die Grundvoraussetzung für passgenaue pflegerische Interventionen, für die Umsetzung von Bedürfnisgerechtigkeit und Selbstbestimmung, für die Hilfe zum Gesundwerden und -bleiben (und) für den Umgang mit Krankheit« (Nover 2020: 9-10). Den Forschungsgegenstand zu verstehen ist also Voraussetzung, um passgenaue pflegerische Interventionen zur Verfügung zu stellen. Im Folgenden wird der Forschungsgegenstand kurz dargelegt.
Die Autorin arbeitet seit vielen Jahren auf der Kinderintensivstation, die größte Patientengruppe, die auf der Kinderintensivstation versorgt wird, ist die Gruppe der Früh- und Neugeborenen. Das Forschungsinteresse der Autorin in ihrem Dissertationsprojekt liegt im Verstehen des Phänomens Schmerz sehr kleiner Frühgeborener. Da es sich um eine aktuell laufende Forschung handelt, wird sich der Inhalt dieses Artikels in Teilen auf allgemeine Beschreibungen beschränken. Um das Forschungsinteresse nachvollziehen zu können, folgt eine kurze Einführung in das Phänomen Schmerz bei Frühgeborenen.
Auf der Grundlage von systematischer Literaturanalyse und Erfahrungen im klinischen Setting erarbeitete sich die Forscherin Wissen zum Thema Schmerz in der Patientengruppe der Frühgeborenen. Das Dissertationsprojekt nimmt besonders Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit in Bezug auf das Phänomen Schmerz in den Blick. In der Gruppe der Frühgeborenen handelt es sich bei Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit um Kinder, die vor der 24. Schwangerschaftswoche geboren werden. Frühgeborene können heute schon ab der 22. Schwangerschaftswoche überleben und werden in deutschen Krankenhäusern pflegerisch und medizinisch versorgt (Domellöf & Jonsson 2018; Fischer et al. 2018). Viele dieser Kinder überleben und können nach Hause entlassen werden, von den Kindern, die versterben, lebten im Jahr 2017 eine nicht unerhebliche Zahl von 295 kleinen Frühgeborenen 7 Tage oder bis zu vier Wochen, bis sie starben (IQTIG 2018). »Die Versorgung dieser extrem vulnerablen Patientengruppe stellt die Behandlungsteams von neonatologischen Intensivstationen vor multiple Herausforderungen. Die adäquate Schmerzerfassung in der Zeit der wochenlangen intensivmedizinischen Behandlung ist eine davon« (Schmitt, Werner & Hock 2020).
Es sind die kleinsten und kränksten Frühgeborenen, die aufgrund diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen die meisten Schmerzen erleiden (Cig-nacco et al. 2009). Der unbehandelte Schmerz von Früh- und Neugeborenen hat Auswirkungen und kann zusätzlich zu der kindlichen Unreife schwerwiegende Spätfolgen hervorrufen (Peters 2019; Schmitt, Werner & Hock 2020). Frühgeborene können nicht befragt werden, ob sie Schmerzen haben, für die Allerkleinsten liegt bis heute kein geeignetes Schmerzerfassungsinstrument vor, so sind sie darauf angewiesen, dass andere — also Pflegefachpersonen und Ärzt:innen oder auch die Eltern — ihre Schmerzen erkennen.
Dazu müssen wir wissen, wie die Kleinsten der Frühgeborenen ihre Schmerzen zeigen, um die feinen Schmerzzeichen wahrnehmen zu können. Aufgrund ihrer extremen Unreife sind diese Frühgeborenen kaum in der Lage, deutliche Schmerzzeichen zu äußern. Lautes Weinen und Strampeln sind aufgrund des Entwicklungsstandes, einer Beatmung und der Schwerkraft, denen die Frühgeborenen außerhalb des schützenden Mutterleibes ausgesetzt sind, so gut wie nicht möglich. Auch ist die Mimik im Sinne eines Schmerzgesichtes stark eingeschränkt, weil weder die muskulären noch nervalen Voraussetzungen dazu fertig entwickelt sind. Da kleine Frühgeborene ihre energetischen Ressourcen zum Überleben brauchen, sind sie in krisenhaften Situationen eher bewegungslos und können kaum noch Signale aussenden (Schmitt 2011).
Pflegefachpersonen nehmen bei der pflegerischen Versorgung derzeit eine Schmerzeinschätzung aufgrund ihrer subjektiven Wahrnehmung vor, weil — wie beschrieben — für die anvisierte Patientengruppe keine objektiven Indikatoren zur Verfügung stehen, die den Schmerz reliabel und valide messen. Es existieren weder im deutschsprachigen noch im englischsprachigen Raum testtheoretisch untersuchte Schmerzerfassungsinstrumente für Frühgeborene kleiner der 24. Schwangerschaftswoche (RCN 2009; Schmitt 2011; Schmitt 2014; AWMF 2015; DNQP 2020).
Zusammenfassung: Vor allem zu Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit, also die unter der 24. Schwangerschaftswoche Geborenen, gibt es in der nationalen und internationalen Datenbasis kaum Hinweise, wie sie ihre Schmerzen zeigen. Doch nur der Schmerz, der wahrgenommen wird, wird auch behandelt. Hier liegt die Begründung für die Durchführung des aktuellen Dissertationsprojektes.
Methodologisch ist das Forschungsprojekt in der Ethnomethodologie verortet, die eine eigene Theorieentwicklung innerhalb der qualitativen Forschung darstellt. Die unterschiedlichen theoretischen Traditionen qualitativer Forschung beziehen sich auf das Alltagshandeln von Gesellschaftsmitgliedern in unterschiedlichen Situationen und unter verschiedenen kulturellen Bedingungen. Die Beschreibungen von Alltagshandeln in konkreten Situationen ist in der qualitativen Forschung zentrales Thema der Theorieentwicklung (Flick 1995). Gefragt wird nach den Routinegründen alltäglichen Handelns, ihren formalen Mechanismen und nach den Voraussetzungen sozialer Ordnung. Geschaut wird auf das Alltägliche der von den Gesellschaftsmitgliedern vollzogenen Herstellungsleistungen, »die erst die soziale Ordnung als Geordnetheit von Kommunikation und Interaktion hervorbringen« (Flick 1995). Das Alltagshandeln, hier das des Pflegefachpersonals auf der neonatologischen Intensivstation (NICU), meint im Kontext der Schmerzwahrnehmung bei Frühgeborenen ein Handeln, das zwar auf alltäglichen Routinen basiert, dieses Handeln gründet jedoch zu Teilen auf implizitem Wissen (Gerrish & Lacey 2010). Dieses Wissen zu explizieren, ist Ziel dieser Forschung. Berufliches Handeln gründet sich hingegen auf explizitem professionellem Wissen. Doch im Bereich der Schmerzerfassung der beschriebenen Population existieren noch keine geeigneten Theorien, Methoden und Instrumente, um berufliches Handeln zu evozieren, das professionell begründet ist und Schmerzzeichen dieser Population methodisch erfassen kann (Gerrish & Lacey 2010; Schmitt-Vollmer 2016).
Um das implizite Wissen der Pflegefachpersonen, wie sie Schmerzzeichen von sehr kleinen Frühgeborenen wahrnehmen, zu explizieren, soll in diesem Forschungsprojekt die Lebenswelt von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit in Bezug auf das Phänomen Schmerz rekonstruiert werden. Die Ethnografie wurde als Methodenansatz gewählt, um die Fragen zu beantworten, die sich aus der Beschreibung des Forschungsgegenstandes ergaben.
Die Ethnografie an sich kann als Forschungsansatz verstanden werden, der verschiedene Methoden miteinander verbindet. Die Ethnografie ist kein Regelwerk, das für einen bestimmten Datentyp Verfahrensschritte bereitstellt, die automatisch zu validen wissenschaftlichen Ergebnissen führen (Breidenstein et al. 2020: 38). Erst die praktische Anwendung unter Beachtung von Gütekriterien kann wissenschaftlich valide Aussagen hervorbringen.
In Verbindung mit dem Ursprung der Ethnografie kann formuliert werden, dass in der sozio-logischen Ethnografie Kulturen beschrieben werden, indem zunächst einmal kulturelle Phänomene entdeckt und ungekannte Spezialbereiche einer Gesellschaft exploriert werden, um dann in der anschließenden Distanzierung zum derzeitig Vertrauten analysiert zu werden (Breidenstein et al. 2020: 35). Der ethnografische Ansatz in diesem Forschungsprojekt bezieht sich auf die Lebens-welt der kleinen Frühgeborenen in Anlehnung an Anne Honers Konstitution der Rekonstruktion von ›Lebenswelt‹. Anne Honer gilt als Fürsprecherin einer deutschsprachigen soziologischen Ethnografie (Knoblauch 1994: 526). Honer verschreibt sich der Rekonstruktion einer subjektiven Perspektive und verortet sie auf der phänomenologischen Theorie der Lebenswelt (Honer 1993). In kleinen sozialen Lebenswelten‹ werden sozial vordefinierte Ausschnitte aus der alltäglichen Lebenswelt subjektiv in einem Zeitraum mit einem besonderen Handlungs-, Wissens- und Sinnsystem erfahren (Knoblauch 1994: 526). Die ›kleine soziale Lebens-Welt‹ ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Differenzierung, die zur Auflösung eines geteilten gesellschaftlichen Konsenses und zur Ausbildung besonderer Orientierungen in Ausschnitten der sozialen Welt führt, in denen der Mensch jeweils zuhause ist. Diese Ausschnitte koppeln sich von der Gesamtgesellschaft ab. Honer fordert deshalb eine Ethnografie der modernen Gesellschaft. Sie verbindet den phänomenologisch-orientierten Sozialkonstruktivismus mit texthermeneutischen ethnografischen Methoden. Nicht fremdes Leben soll kennen gelernt, sondern das eigene kulturelle Milieu soll zu sehen gelernt werden. Die soziokulturelle Lebenswelt wird in viele kleine, um Handelnde herumgebaute Sonderwelten vervielfältigt. Die Welt unserer fremden Nachbarn soll mit anderen Augen entdeckt werden (Knoblauch 1994: 527).
Ethnographien verstehen sich also als Beschreibung von kleinen sozialen Lebenswelten (Lüders 2015), so wie die Lebenswelt von zu früh geborenen Kindern in einem Inkubator sie darstellt. Dieser Forschungsansatz der ethno-grafischen Lebensweltanalyse »dient der verstehenden Beschreibung« dieser Lebenswelten und »von sozial (mit) organisierten Ausschnitten individueller Welterfahrungen« (Honer 2015: 195). So könnte es gelingen, eine »möglichst umfassende Rekonstruktion« des Schmerzerlebens der Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit in konkreten Handlungssituationen zu erreichen (Nover et al. 2015: 303). Beispiele für Forschungsprojekte in Deutschland in Verbindung mit der Ethnografie sind im Bereich der Versorgungsforschung bei Menschen mit Demenz (Nover et al. 2015) und bei der Schmerzein-schätzung von Menschen mit mittelschwerer Demenz im Krankenhaus (Sirsch 2014) zu finden. Weitere Beispiele für ethnografische Forschung in der Pflegewissenschaft sind Forschungen zur personenzentrierten Pflege im Krankenhaus (van Belle et al. 2020) oder zu Herausforderungen, die Pflegefachpersonen bei der Hämodialyse während der Versorgung von Nierenpatienten zu bewältigen haben (Ponce et al. 2019).
Kennzeichnend für die Ethnografie, die stark mit dem Begriff der Feldforschung verbunden ist, ist eine Methodenpluralität, die nach dem Prinzip der Offenheit die Möglichkeit der flexiblen Forschungs-strategie eröffnet. Methodenpluralität bedeutet die Kombination verschiedener Forschungsmethoden, wie z. B. der Teilnehmenden Beobachtung und Interviews kombiniert mit einer Dokumentenanalyse. Diese Offenheit und Flexibilität ist besonders gut geeignet, um auf die Spezifität eines zu untersuchenden Feldes eingehen zu können. Die Methodenauswahl kann auch noch im Forschungs-prozess angepasst und verändert werden. Auch sind qualitative Ansätze wie die Ethnografie für die Minderheitenforschung gut geeignet. Minderheiten sind meist wenig erforscht und weisen Merkmale auf, die sie von anderen Gruppen stark unterscheiden (Lamnek 2010: 653; Flick 2015: 261).
Der flexible Einsatz der unterschiedlichen methodischen Zugänge orientiert sich an der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Gegenstand. Nicht nur der Einsatz der Verfahren kann der Situation angepasst werden, sondern auch das Verfahren selbst (Lüders 2015: 393). Erkenntnisfortschritte im Verlauf des Forschungsprozesses können für die nachfolgenden Untersuchungsschritte verwenden werden. Die Forderung nach Flexibilität schließt standardisierte Verfahren allerdings nicht aus, sondern soll nicht ausschließlich auf standardisierte Verfahren beschränkt sein (Lamnek 2010).
Die Methode der Ethnografie zur Explikation impliziten Wissens ist die Feldforschung, notwendig und besonders bedeutend ist »das persönliche Aufsuchen von Lebensräumen« (Breidenstein et al. 2020: 37). Die Teilnehmende Beobachtung (TB) als Datenerhebungsmethode ist die zentrumbildende Methode im Forschungsfeld (Breidenstein et al. 2020), so auch in diesem Projekt. »Forschungsethische und -praktische Herausforderungen stellen sich in jeder empirischen Untersuchung des pflegerischen Klinikalltags.« In Bezug auf die Feldforschung im Zusammenhang mit der TB kommen praktische Fragen des gelingenden Feldzugangs hinzu, die im Setting einer NICU aufgrund der großen Vulnerabilität der Patientengruppe ethisch1 besonders relevant und herausfordernd sind. TB sind in der Planung und Organisation des Zugangs zum Feld sehr aufwendig, die Einwilligung aller an der Beobachtung beteiligten Teilnehmer verbunden mit der nachweislichen informierten Zustimmung muss vorliegen, aber auch die nicht-teilnehmenden, aber anwesenden Personen im Feld müssen die Forscherin akzeptieren (Dunger, Schnell & Bausewein 2017).
Zentrales Merkmal der Feldforschung ist also die sinnliche Unmittelbarkeit der gesuchten Forschungserfahrung, quasi aus erster Hand (Breidenstein et al. 2020). Die Forscherin selbst ist das Forschungsinstrument, sie nimmt die Geschehnisse und Stimmungen im Feld mit all ihren Sinnen und aus ihrer dortigen Position heraus wahr (Arnold 2015). Es ist zum einen die direkteste Form der Begegnung mit der sozialen Wirklichkeit, die möglich ist und zum anderen ist die Dauerhaftigkeit des Realitätskontaktes mindestens genauso wichtig. Das macht die Feldforschung zu einer zeitaufwendigen und ressourcenintensiven Forschungsmethode (Breidenstein et al. 2020: 37).
Es soll aber auch – und das ist aus meiner Sicht auch noch bedeutend — das implizite Wissen der Forscherin expliziert werden. Teilnehmerin an der TB ist außer den Pflegefachpersonen auch die Forscherin selbst, sie verfügt über implizites Wissen, das nicht ausgeblendet werden kann und so Einfluss auf die Forschung nimmt (Breidenstein et al. 2020: 37). Spätestens beim ethnografischen Schreiben muss sich die Forscherin — wie Honer es formuliert – »durch den ›fremden Blick‹ auf das interessierende Phänomen« in die Lage versetzen, ihr »eigenes, fragloses (Hintergrund-) Wissen darüber zu explizieren und gegebenenfalls zu klären, woher dieses Wissen stammt, in welchen typischen Situationen es erworben wurde, um es dann aus methodischen Gründen zu modifizieren oder zu suspendieren. Es geht also nicht darum, sein eigenes Wissen zu vergessen, sondern darum, dessen Relativität zu erkennen und interpretativ zu berücksichtigen« (Honer 1993: 25).
Die weiteren Methoden der Datensammlung (Interviews, Dokumentenanalyse), die im Sinne der Methodenpluralität Anwendung in dieser Studie finden, sowie die Stichprobenziehungen sind nicht Inhalt dieses Artikels. Die Methode der Datenanalyse wird mit Fokus auf das ethnografische Schreiben dargestellt. Die Verwendung mehrerer qualitativer Forschungsmethoden, die jeweils unterschiedliches Datenmaterial produzieren, begründet die Wahl der Auswertungsmethode(n). Die ›rekonstruktive hermeneutische Fallanalyse nach Panke-Kochinke‹ (2004) wurde u. a. als Regelwert zur Auswertung mit herangezogen. Die Methode von Panke-Kochinke (2004) ist so entwickelt, dass unterschiedliches und disparates Material ausgewertet werden kann (Panke-Kochinke 2004). Auf die Anwendung der Methode von Panke-Kochinke wird in diesem Artikel nicht weiter eingegangen. Es wird aber auf die Analyse durch analytisches Schreiben im Folgenden eingegangen.
Für die Ethnografie gilt, dass das Schreiben besonders bedeutsam ist. Beim ethnografischen Schreiben erschließt sich im schreibenden Beobachten sprachlich ein Phänomen, das sprachlich noch nicht vorliegt, erst durch die Beschreibung an sich wird das Phänomen ›zur Sprache gebracht‹. Methodologisch begründet wird dieser Vorgang durch das bereits genannte Prinzip der Offenheit, das als grundlegend für die Sozialforschung, aber besonders der Ethnografie gilt (Breidenstein et al. 2020). Das Phänomen, das hier zur Sprache werden soll, ist, wie Pflegefachpersonen Schmerzen bei Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit wahrnehmen. Das Verfassen der Feldnotizen, die Überführung der Notizen in Textdateien, die anschließende Bearbeitung und Analyse der elektronischen Texte und das Erstellen des Textkorpus mit Notes und Memos erfolgt am Schreibtisch. Die Forschende distanziert sich vom Feld und verändert ihre Perspektive (Breidenstein et al. 2020). Diese Beschreibungen sind also perspektivisch, aber auch selektiv und interpretativ. Die zu erbringende Leistung der Forscherin ist die Analyse im Schreiben, der Forschungsprozess im Zusammenhang mit dem Forschungsinteresse ist die lenkende Instanz, um sich nicht in der Fülle der Analysen zu verlieren. Weiter wichtig bleibt die Beachtung des Maxims der Offenheit, die Orientierung erfolgt durch Reflexion, Distanzierung und Verfremdung in Bezug auf die situative Relevanz der Teilnehmer (Breidenstein et al. 2020: 119).
Den Forschungsgegenstand zu verstehen, der Auslöser eines Forschungsbegehrens ist, ist Voraussetzung, um passgenaue pflegerische Interventionen zur Verfügung zu stellen. Bei anwendungsorientierten Forschungsansätzen für die Pflege steht die klinische Pflegepraxis im Mittelpunkt. Akteure sind Patient:innen, An- und Zugehörige, die Empfänger der Pflege sind und Pflegefachpersonen, die pflegerische Interventionen durchführen. Am Beispiel der besonders vulnerablen Patientengruppe der Frühgeborenen wird deutlich, dass, um pflegerische Interventionen durchführen zu können, z. B. Schmerzprävention und Schmerzbehandlung, Grundsatzforschung zu betreiben ist, wenn z. B. wenig bekannt ist zum Phänomen Schmerz in der teilnehmenden Patientengruppe. Hier liegt auch die Begründung für die Durchführung und die Wahl des Forschungsansatzes für das aktuelle pflegerische Dissertationsprojekt, das Anlass für diesen Artikel ist. Es soll das implizite Wissen von Pflegefachpersonen expliziert werden, wie sie Schmerzzeichen von sehr kleinen Frühgeborenen wahrnehmen. Dazu soll die Lebenswelt der kleinen Frühgeborenen in Bezug auf das Phänomen Schmerz rekonstruiert werden. Die Ethnografie wurde als Methodenansatz gewählt, um die Fragen zu beantworten, die sich aus der Beschreibung des Forschungsgegenstandes ergaben. Der gewählte Forschungsansatz der ethnografischen Lebensweltanalyse erfolgt in Anlehnung an Anne Honer (Honer 2015: 195). Neuere Beispiele für Pflegeforschung in Deutschland in Verbindung mit der Ethnografie befassen sich mit der Versorgungsforschung (Nover et al. 2015) und Schmerzeinschätzung (Sirsch 2014) bei Menschen mit Demenz.
Der Forschungsansatz der Ethnografie integriert Methodenpluralität mit einer flexiblen Forschungsstrategie. Zentral ist die Anwesenheit im Feld verknüpft mit der Methode der Teilnehmenden Beobachtung. Teilnehmer:innen an der TB sind außer den Pflegefachpersonen auch die Forscherin selbst, sie verfügt über implizites Wissen, das nicht ausgeblendet werden kann und so Einfluss auf die Forschung nimmt. Prinzipien (Gütekriterien) wie die Gegenstandsangemessenheit, Offenheit, Kommunikation, Prozesshaftigkeit und Reflexivität müssen forschungsleitend sein. Die Auswertung unterschiedlichen Datenmaterials ist zu bewältigen. Die Analysemethode der ›rekonstruktiven hermeneutischen Fallanalyse nach Panke-Kochinke‹ (2004) ist z. B. so entwickelt, dass unterschiedliches und disparates Material ausgewertet werden kann (Panke-Kochinke 2004). Für die Ethnografie gilt zudem, dass das Schreiben besonders bedeutsam ist. Beim ethnografischen Schreiben erschließt sich im schreibenden Beobachten sprachlich ein Phänomen, das zuvor sprachlich nicht vorhanden ist.
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