Text: Prof. Dr. Christian Schröder
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hatten und haben weltweit weitreichende Folgen, die sich auch auf das Welt- und Selbsterleben von Kindern und Jugendlichen auswirken. Doch wie erleben Kinder und Jugendliche eigentlich Corona?
Im Bachelor-Studiengang ‚Pädagogik der Kindheit‘ der Fakultät für Sozialwissenschaften der htw saar haben Studierende innerhalb eines Methodenseminars unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Schröder und Lea Alt Bilder von Kindern und Jugendlichen (im Alter von 10 bis 13 Jahren) analysiert. Die Bilder stammen aus der Zeitung „DIE ZEIT“, die gemeinsam mit dem Internationalen Kunstmuseum Oslo aufgerufen hatte, ein Bild zum Thema ‚Corona‘ zu malen und dieses unter dem Hashtag #kidspaintcorona zu veröffentlichen. Dem Aufruf sind über 5000 Kinder und Jugendliche weltweit gefolgt. Aus der ersten Sichtung der über die Webseite und den Hashtag auffindbaren Bilder wurden diese in drei Themenfelder unterteilt. So zeigen einige Bilder der Kinder eine Personifizierung des Coronavirus. Andere stellen das Thema Maskierung in den Mittelpunkt. Zuletzt gibt es Bilder von Kindern, die Ausgrenzungen durch Lockdown und Quarantäne zu Zeiten der Pandemie thematisieren. Insgesamt wurden aus diesen Themenbereichen vier Bilder ausgewählt, um sie im Seminarkontext näher zu analysieren. Grundlage für die Analyse bildete die Methode der Bildanalyse, die von Jeanette Böhme und Tim Böder entwickelt wurde. Jeanette Böhme, Professorin an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, begleitete das Online-Seminar und die Arbeiten der Studierenden als Gastdozentin. Der Methode folgend, wurde zunächst eine Analyse der Form vorgenommen (wie wird etwas dargestellt?), an die in einem zweiten Schritt die Analyse der Gestalt (was wird dargestellt?) der Bilder anschließt. In Interpretationsgruppen wurden Thesen zu den Bildern aufgestellt, die den Selbst- und Weltbezug im Erleben der Kinder von Corona zum Ausdruck bringen. Die Ergebnisse der Analysen zeigen die Sehnsucht vieler Kinder nach dem verbotenen ‚Draußen-Sein‘ (Mara, 12 Jahre) und sie stellen heraus, wie Menschen verzweifelt versuchen, das Geschehen auf der Welt zu kontrollieren (ohne Abbildung). Ein weiteres Bild stellt die COVID-19-Pandemie als Auge eines Menschen dar, in dessen Blick sich eine erschreckende Szenerie von Schock, Trauer und Angst spiegelt (Viara, 10 Jahre). In dieser allgegenwärtigen Gefahr, die von dem Coronavirus ausgeht, ist der einzig verbleibende Zufluchtsort die Introversion, also in sich zu gehen und sich zu verschließen vor einer äußeren, nicht kontrollierbaren Welt (Ida, 11 Jahre).
In den vier analysierten Bildern steckt viel davon, wie Kinder und Jugendliche die Welt wahrnehmen. Das übergreifende Thema dabei ist die Erfahrung von Ohnmacht in einer Welt, die versprochen hat, durch technischen Fortschritt alle Probleme lösen zu können. Damit schließen die Ergebnisse der Analysen an erste Erkenntnisse und Beobachtungen aus Kinder- und Jugendarbeit und -psychiatrie an. Kinder und Jugendliche erleben die Pandemie als kollektive Ohnmachtserfahrungen, die ihnen als weltgesellschaftliches Krisenphänomen entgegentritt. Das gefestigte Weltbild der durch Technik und Fortschritt planbaren und kontrollierbaren Welt gerät aus den Fugen. Die gesellschaftliche und individuelle Krise, die durch den infizierten Menschen ausgelöst wird, führt zu Vertrauensverlusten bei persönlichen Begegnungen mit anderen Menschen und zudem zu einer Vertrauenskrise in gesellschaftliche Institutionen. Es handelt sich um eine Krise, die nicht durch gemeinsames Zusammenarbeiten gelöst werden kann, weil die einzige Möglichkeit, der Gefahr zu entrinnen, die (Selbst-)Isolation ist. Eine solche Krise stellt die Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Entwicklungsziele in Frage, denn Fortschritt, der verspricht, die Probleme zu lösen, die durch ihn, insbesondere durch industrielle Nutztierhaltung, das Vordringen in vom Menschen noch unbesiedelte Räume und globalen Temperaturanstieg, verursacht wurden, verliert seine Glaubwürdigkeit. Um diese Krise individuell und kollektiv zu bewältigen, braucht es Vorhaben, die das Erleben individueller und auch kollektiver Selbstwirksamkeit in den Mittelpunkt pädagogischer Arbeit rücken. Im Erleben der Wirksamkeit des (gemeinsamen) Handelns entsteht erneut (Lebens-)Sinn, der – mit Blick auf die noch anstehenden gesellschaftlichen Krisen – zu einer gestalterischen Kraft sozialen Wandels führen kann.